160 Kilometer gegen das Vergessen

Ultramarathonlauf und Kranzniederlegung an der Gedenkstele für Marienetta Jirkoswky in der Florastraße

(17.08.2015)  700 Teilnehmer gehen im vierten Ultramarathonlauf "100 Meilen Berlin" am 15. und 16. August auf dem Berliner Mauerweg auf die Strecke. Die Wenigsten laufen für eine gute Zeit. Der weit überwiegende Teil der Läufer startet gegen das Vergessen um die Folgen von Diktatur und Mauern – zwischen Ländern, in Köpfen und in Herzen. Jedes Jahr ist der Lauf den Mauertoten entlang der innerdeutschen Grenze gewidmet. Der diesjährige Marathon widmete sich demSchicksal von Marienetta Jirkowsky. Die 18-Jährige aus Spreenhagen hatte in der Nacht zum 22. November 1980 in Hohen Neuendorf mit zwei Freunden die Flucht über die Mauer versucht und war von Schüssen tödlich getroffen worden. Ihr Todestag jährt sich 2015 zum 35. Mal. Daher hatten die Teilnehmer bereits im Vorfeld ein Kärtchen mit Marienettas Bild erhalten, auf das sie bewegende Gedanken schrieben und in Hohen Neuendorf an der Florastraße an eine Tafel pinnten, die unmittelbar neben der Gedenkstele aufgestellt war. Auch auf der Startnummer der Läufer war Marienettas Bild zu sehen.

Der Italiener Marco Bonfiglio war der erste, der am Morgen an der Stele kurz innehielt - er war auch der schnellste Läufer, der 160,9 Kilometer langen Strecke und lief nach 13 Stunden, 40 Minuten und 11 Sekunden durchs Ziel im Berliner Friedrich-Ludwig-Jahn-Stadion. Der letzte Läufer des Tages war „Besenläufer“ Gerd Gladasch aus Karlsruhe. Zwei Mal war er bereits mitgelaufen. Gerd Gladasch stammt aus Leipzig. Er ist 1989 über die Prager Botschaft aus der DDR abgehauen und fühlt sich eng mit dem Schicksal der Maueropfer verbunden. Diesmal begleitet er Susanne Jakobsen aus Dänemark, die als letzte Starterin des Tages läuft und zum ersten Mal dabei ist. Etwa 600 Einzel- und Staffelläuferinnen und -läufer mit 100 Radbegleitern gingen 2015 auf die Strecke. Trotz der Hitze kamen die meisten an. Die Berlinerin Elvira Ernst läuft mit der „Grenzgänger“-Staffel gegen Vorurteile und Diskriminierung im Alltag – sie ist stark übergewichtig und hat nicht nur als Läuferin stets mit Vorbehalten zu kämpfen. Ein Anderer trägt einen Overall, auf dem alle Namen der Mauertoten verzeichnet sind. Jemand läuft im Superman-Kostüm, um an die Helden der Mauer zu erinnern. Ein Team von Ärzte ohne Grenzen ist ebenfalls am Start. Allen gemeinsam ist, dass sie weltoffene, freundliche Menschen sind, die etwas bewegen wollen.

Um 9.30 Uhr haben sich an der Stele neben Bürgermeister Klaus-Dieter Hartung und Jörg Levermann vom Verein LG Mauerweg zu einer Kranzniederlegung eingefunden, um als Stadt offiziell an die deutsch-deutsche Teilung und ihre Opfer zu erinnern. Von Seiten der Stadtverordneten waren Josef Andrle und Lutz Tornow (beide SPD) der Einladung gefolgt. „Der Staat, der geglaubt hat, er könne die Freiheit des Einzelnen erbarmungslos bekämpfen, hat seine gerechte Strafe bekommen – er ist untergegangen. Doch das gibt keinem der Opfer das Leben und keinem Angehörigen den geliebten Menschen wieder. Das Mädel wollte nur ihre Freiheit. Wir danken den Menschen, die uns dies nicht nur durch den Lauf, immer wieder vor Augen führen.“ Der Berliner Mauerweglauf ist traditionell eine Sportveranstaltung mit politischem Hintergrund. Jörg Levermann betonte, dass es überhaupt keine unpolitischen Sportveranstaltungen gebe. „Die Hälfte der Läufer hat eine DDR-, die andere Hälfte eine „West“-Biografie. Sie eint die bewegte Erinnerung. Sie überwinden in ihrem Lauf ebenfalls Grenzen.“ Gleichzeitig dankte er den 300 ehrenamtlichen Helfern an der Strecke, ohne die die Organisation nicht zu bewerkstelligen wäre. Einer der 26 Verpflegungsstützpunkte war wie in den Jahren zuvor der Bergfelder Grenzturm, an dem die Läufer mit Getränken, Nahrung und Aufmunterungen versorgt wurden. Unter den Helfern ist immer auch Marian Pryzbilla, dem die Stadt Hohen Neuendorf die Aufarbeitung der Schicksale der Mauertoten von Hohen Neuendorf, insbesondere Marienetta Jirkowskys, wesentlich verdankt.